Mittwoch, 29. Februar 2012

Politiker sind keine Historiker


Es war ein höchst umstrittenes Gesetz, das das französische Verfassungsgericht jetzt kippte: Denn seit Januar galt in in Frankreich: Wer behauptete, es habe 1915 in der Türkei keinen Völkermord an den Armeniern gegeben, sollte zu einem Jahr Gefängnis oder 45.000 Euro Geldstrafe verurteilt werden können. Nun befanden die Richter, dies sei ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Meinungsfreiheit. Bemerkenswert ist ihre Begründung: Sie ist eine Mahnung an den Gesetzgeber, die eigene Weisheit nicht zu überschätzen. "Die historische Wahrheit kann nicht per Gesetz festgestellt werden", konstatierte der Abgeordnete Michel Diefenbacher, einer der Kläger gegen das Gesetz.
Denn die Frage des Völkermordes an den Armeniern wirft ein besonderes Problem auf: Es gibt keine unangefochtene, internationale Instanz, die je festgestellt hat, dass es sich bei dem Massaker an den Armeniern durch Truppen des Osmanischen Reiches im Jahr 1915 um Genozid handelte. Es war das französische Parlament selbst, das in einem Gesetz von 2001 zu diesem Schluss gekommen war. "Der Gesetzgeber hat es unter Strafe gestellt, an der Existenz und der juristischen Wertung eines Verbrechens zu zweifeln, das er selbst erst als solches anerkannt und eingestuft hat", schrieben die Verfassungsrichter in ihrer Begründung. "Damit hat der Gesetzgeber die Meinungs- und Kommunikationsfreiheit auf verfassungswidrige Weise eingeschränkt."
Damit fanden die französischen Juristen auch die Lösung für ein sehr heikles Problem: Politiker und Historiker hatten befürchtet, dass die Klage vor dem Verfassungsrat dazu führen könnte, dass auch der Völkermord an den Juden in Zukunft ungestraft geleugnet werden könnte. Doch der Holocaust, so der höchst anerkannte Jurist und frühere Justizminister Robert Badinter, sei bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen zweifelsfrei als Völkermord festgestellt worden.
Sarkozy plant neuen Anlauf
Tatsächlich sprechen die meisten Historiker auch bei den Armeniern von einem Völkermord. Zwischen 300.000 und 1,5 Millionen Armenier - die Schätzungen gehen weit auseinander - waren 1915 und 1916 bei Massakern und Todesmärschen um ihr Leben gekommen. Doch die Türkei hat stets bestritten, dass es sich um eine systematische Vernichtungskampagne gehandelt habe. Nach der Verabschiedung des Gesetzes im Januar zog sie aus Protest ihren Botschafter aus Paris ab und drohte mit Sanktionen. Dass die türkische Regierung auf das Urteil des Verfassungsrates jetzt mit Genugtuung reagierte, war keine Überraschung.
Genauso wenig überraschend die Reaktion des um seine Wiederwahl bangenden französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy: Der hatte, ganz ungeachtet jeder möglichen Begründung des Verfassungsrates, schon im Vorfeld der Urteilsverkündung erklärt, sich mit einem Nein nicht abzufinden. Sollten die Verfassungsrichter das Gesetz kippen, werde er auf jeden Fall schnellstmöglich einen neuen Entwurf einbringen, um die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern unter Strafe zu stellen. Sarkozys Kalkül ist klar: Ihm geht es um die Stimmen der großen armenischen Diaspora in Frankreich. Wie schäbig allerdings, wenn ausgerechnet das Staatsoberhaupt Recht und Justiz des eigenen Landes so verächtlich behandelt.

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