Dienstag, 3. Januar 2012

Eine objektive Geschichtsaufarbeitung ist unmöglich


Armenien und die Türkei wollen eine Historikerkommission zu den Massakern 1915-1917 berufen. Exil-Armenier laufen dagegen Sturm
Am 10. Oktober unterzeichneten Armenien und die Türkei zwei Vereinbarungen zur Normalisierung ihrer Beziehungen. Das Ergebnis ist ein Aufschrei des Entsetzens in der armenischen Diaspora. Weltweit demonstrieren und protestieren Armenier, nicht so sehr, weil die Grenzen geöffnet werden sollen, was nur gut sein kann für Armeniens Wirtschaft, und auch nicht, weil beide Länder Botschafter austauschen wollen. Was die Diaspora mit Abscheu erfüllt, ist ein Detail, das in westlichen Medien bislang kaum zur Sprache kam: Eine internationale Historikerkommission soll die Wahrheit über den Genozid an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches 1915-17 untersuchen.
Damit wird eine jahrelange Strategie der Diaspora torpediert, genau das zu verhindern. Überall auf der Welt wurden und werden Regierungen und Parlamente von armenischen Organisationen aufgefordert, den Völkermord per Mehrheitsabstimmung zur verbindlichen historischen Wahrheit zu erklären, und dessen Leugnung unter Strafe zu stellen. Das Osmanische Reich hat den ersten Holocaust der Geschichte an einem wehrlosen und unschuldigen Volk begangen, Hitler hat sich davon inspirieren lassen, als er die Juden Europas ausrottete, 1,5 Millionen Armenier starben, und es war die erklärte Absicht der Osmanen, die Armenier als Volk zu vernichten. So lauten die Eckpunkte dessen, was nach dem Willen der Auslandsarmenier niemand anzweifeln darf, und wenn jemand es doch tut, dann soll er ins Gefängnis.
Und plötzlich scheint Armenien selbst einzuräumen, dass vielleicht noch nicht das letzte Wort gesagt ist über das, was damals passierte, dass es noch viel zu erforschen gibt, und dass eine Historikerkommission vonnöten ist, um endgültig Klarheit zu schaffen. Welches Parlament wird nun noch Erklärungen zu einem Völkermord abgeben wollen, bevor die Kommission in Jahren vielleicht zu einem abschließenden Urteil gelangt ist?
Dass die oben skizzierte Genozidthese überprüft werden soll, das ist es, was die Diaspora empört. Warum? Weil der Völkermord nicht nur Geschichte ist, sondern auch Identität stiftender Mythos. Sollte die Kommission neue Wahrheiten zu Tage fördern, so geht es nicht nur um staubige Gelehrtenmeinungen, sondern um das sehr lebendige und oft schmerzhafte Ich-Gefühl vieler Exil-Armenier.
Es kann natürlich sein, dass die Historiker am Ende das, was von mehreren Volksvertretungen bereits als Wahrheit dekretiert wurde, tatsächlich für wahr befindet. Was gibt es überhaupt zu bezweifeln?
Zunächst die Zahl der Opfer. Nach Auffassung des Historikers Hikmet Özdemir, der in der Genozidfrage die türkische Regierung berät, kamen damals nicht 1,5 Millionen, sondern rund 350 000 Armenier ums Leben, und es starben mehr Türken als Armenier. "Ich persönlich verbeuge mich vor allen armenischen Opfern", sagte er in einem Gespräch mit der WELT. "Wir dürfen aber nicht vergessen, dass allein 1915 mehr als 102 000 Türken von Armeniern getötet wurden, und insgesamt 570 000 Türken von armenischer Hand starben." Özdemir betont, dass Krieg herrschte und armenische Freischärler mit den Russen gegen die Osmanen kämpften. Die Entscheidung, die armenische Bevölkerung der Region komplett zu deportieren, betrachtet er als eine Art Anti-Guerilla-Maßnahme, die hohen Opferzahlen erklärt er mit den widrigen Umständen der Zeit. Krankheiten und Hunger, so sagt er, rafften in jenen Jahren selbst in der türkischen Armee unzählige Menschen dahin. Der Historiker Günter Lewy geht in einer neueren Studie von rund 640 000 armenischen Todesopfern aus.
Was die Vernichtungsabsicht betrifft, der Kern des Genozid-Vorwurfs, so sagte der britische Historiker Norman Stone der WELT, dass es ein wenig so ist, "als wenn man sagt: ,Hitler wollte die Juden töten, aber er ließ jene von Berlin, Frankfurt und Köln in Ruhe'. Das Entscheidende ist natürlich, dass die Osmanen die Armenier in Aleppo oder Istanbul nicht angerührt haben." Die Deportationen erfolgten in den Gebieten, in denen eine militärische Gefahr drohte.
Türkische Historiker verweisen darauf, dass den Deportationen Angriffe armenischer Freischärler vorangegangen seien, die auf osmanischem Boden einen eigenen Staat errichten wollten, und dass die Tragödie nicht entstanden wäre ohne dieses Element eines aggressiven armenischen Nationalismus'.
Armenische Historiker begegnen solchen Argumenten meist, indem sie sie mit Verachtung strafen. Standardreplik ist, dass Zweifler ("Leugner" im Jargon der Diaspora) "im Solde der Türkei" stehen, oder dass Historiker wie der prominente britische Islamwissenschaftler Bernard Lewis, der die Genozid-These ablehnt, jüdisch seien und nur den Holocaust am eigenen Volk als Völkermord anerkennen wollten.
Stone, der in Ankara lehrt, hält die geplante Kommission für überfällig. "Zum Holocaust gab es die Nürnberger Prozesse", sagt er. "Die Frage des armenischen Genozids hat nie ein ordentliches Gericht erreicht, wo die Beweise gesichtet und bewertet worden wären. Als Juristen sich mit der Materie befassen, zur Zeit der britischen Okkupation Istanbuls 1919 bis 1922, hatten die Briten die osmanischen Archive zur Verfügung gestellt, sie konnten verhören, wen sie wollten, und haben nie irgendwelche Beweise für einen Völkermord gefunden. Als sie gebeten wurden, mehrere Dutzend Türken, die als potenzielle Kriegsverbrecher auf Malta gefangen gehalten wurden, wegen Genozids anzuklagen, sagten sie unter größtem Bedauern: Sorry, wir finden keine Beweise gegen diese Leute. Sie fragten die Amerikaner, und die Amerikaner sagten, wir haben auch keine Beweise."
Noch ist nicht klar, wie die Kommission aussehen soll und wie der genaue Auftrag lauten wird. Die Idee kommt von der türkischen Seite, und es ist ein beträchtlicher Erfolg der türkischen Außenpolitik, dass Armenien in deren Bestellung einwilligt. Hikmet Özdemir, der als Mitgestalter von Ankaras Politik in dieser Angelegenheit eine Rolle spielt, wünscht sich eine Art Historiker-Tribunal: "Wir fordern eine offene, internationale Diskussion dieser Frage. Wir haben unsere Archive geöffnet. Wir fordern alle anderen Beteiligten auf, auch ihre Dokumente auf den Tisch zu legen. Und wenn dabei herauskommt, dass es einen Genozid gab, werden wir das akzeptieren."

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen