Dienstag, 3. Januar 2012

Erneut bleiben armenische Historiker fern

 Es hätte März 2006 eine Diskussionsplattform werden können, auf der armenische Historiker ihren türkischen Kollegen einmal richtig hätten zeigen können, wie das armenische Volk 1915 bis 1917 von türkischer Hand vernichtet wurde. Aber die meisten zogen es vor, fernzubleiben. Vier armenische Historiker, die die Genozidthese vertreten, waren zur dreitägigen Konferenz "Neue Ansätze in den türkisch-armenischen Beziehungen" in Istanbul eingeladen worden, lehnten aber ab. So waren nur drei Verfechter der Genozidthese auf der Konferenz zugegen, die von ihren Gegnern ausgerichtet worden war - jenen Historikern also, die in der Deportation der armenischen Bevölkerungen durch die osmanische Regierung keinen Genozid erblicken. Hilmar Kaiser, der israelische Historiker Yair Auron und Ara Sarafian vom Londoner Gomidas-Institut hörten sich an, was ihre Kollegen zu sagen hatten. Das Ergebnis war interessant: Sarafian sagte am Ende zu, gemeinsame Projekte mit den türkischen Historikern des TTK zu erwägen (einer Institution, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Genozid-These zu entkräften).
Neue Forschungsergebnisse gab es vor allem von Yusuf Sarinay, der Dokumente präsentierte, wonach der osmanische Innenminister Talat Pascha ein strenges Vorgehen anordnete, um die deportierten Armenier vor Übergriffen zu schützen, und auch persönlich die Todesurteile von 1643 türkischen Offizieren, Soldaten und Funktionären unterzeichnete, die sich an Deportierten vergriffen hatten. Daß es solche Hinrichtungen gab, war schon früher klar gewesen, neu war die persönliche Rolle Talat Paschas, der auf armenischer Seite als erbarmungsloser Armenier-Hasser und Architekt des "Genozids" gilt.
Der deutsch-türkische Historiker Cem Özgönül präsentierte ein bemerkenswertes Debüt. Als erster türkischer Historiker überhaupt hat Özgönül die deutschen Dokumente des Auswärtigen Amtes unter die Lupe genommen und sie mit den Versionen verglichen, die (im Auftrag der Reichsregierung) 1919 vom protestantischen Armenier-Aktivisten Johannes Lepsius veröffentlicht wurden. In "Der Mythos eines Völkermordes" (Önel-Verlag, 2006) vertritt Özgönül die These, daß Lepsius die Dokumente systematisch und massiv manipulierte, um übertriebene Dimensionen der armenischen Tragödie zu suggerieren (Opferzahlen), deren Ursache (armenische Freischärler) zu verharmlosen und der osmanischen Führung rassistische Motive zu unterstellen. Letztlich sei es Lepsius, so Özgönül, um eine armenische Abspaltung vom osmanischen Reich gegangen. Özgönül meint, daß die Manipulationen nur zum Teil dazu dienten, eine deutsche Mitschuld abzustreiten, sondern daß Lepsius unabhängig vom Außenministerium proarmenische Ziele verfolgte.
Wenn diese Ausführungen stimmen, dann ist die wichtigste dokumentarische Grundlage der Vertreter der Genozid-These erschüttert. Ein anderes Standbein, die sogenannten Andonian-Dokumente, erwiesen sich schon vor mehr als 20 Jahren als Fälschung.
Hilmar Kaiser, ein namhafter Genozid-Verfechter, hörte sich Özgönüls Ausführungen an, brachte aber keinerlei Einwände oder Kritik vor. Es wird interessant sein, diesen Aspekt der Diskussion in den nächsten Monaten zu verfolgen. Sollte Özgönüls Werk tatsächlich kritischer Prüfung standhalten, könnte es durchaus eine Trendwende in der Debatte über den Genozid an den Armeniern herbeiführen.
Einen Völkermord wird man in der Debatte immer behaupten können. Damals gab es den juristischen Begriff zwar nicht, aber gemäß der UN-Definitionen sind die Geschehnisse unschwer als Völkermord einzuordnen. Türkische Historiker sagen aber, daß es keine Vernichtungsabsicht gab, daß die Opferzahlen auf armenischer Seite (durch Krankheit, Hunger und Übergriffe) nicht höher waren als die Zahl der Opfer auf türkischer Seite durch Krankheiten, Hunger und armenische Übergriffe, und daß es mithin keine "Singularität" des armenischen Leids gab - ja, daß man den armenischen Aufständischen ähnliche Vorwürfe machen kann wie den Osmanen, nämlich Massaker an Zivilisten und systematische Vertreibungen in jenen Gebieten, wo sie zeitweise die Macht hatten. Vielleicht kommen die armenischen Historiker ja nächstes Mal doch, um ihren Standpunkt zu vertreten.

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